Text: Elvira D’Ippoliti
In der Einfachheit liegt eine unerwartete Größe. Die Besitzerin der Casa Senatore in Capestrano empfängt ihre Gäste, die in liebevoll eingerichteten Zimmern und Apartments mit nostalgischem Flair verweilen, in ihrer Küche mit traditionellem Charakter. „Bei uns heißen die Ferratelle Pizzelle“, erklärt sie, während sie einen Teller duftender, waffelartiger Gebäcke auf den Tisch stellt, die zum Probieren einladen. Die Pizzelle sind der krönende Abschluss einer authentischen und herzlichen Gastfreundschaft, die man bereits bei der Ankunft in einem der fünfzehn „Erzählenden Dörfer des Gran Sasso“ spürt – einer neuen Reisedestination unweit von L’Aquila. Diese Region bietet nicht nur spektakuläre Landschaften und bewegte Geschichte – auch die Kulinarik ist kraftvoll, authentisch und reich an Charakter.
Rocca Calascio wirkt wie aus dem Fels gewachsen, auf dem sie erbaut wurde. Der Weg beginnt bescheiden in Calascio, windet sich stetig bergauf – und erst ganz am Ende, wie aus dem Nichts, enthüllt sich die Silhouette der auf 1460 Metern erbauten Festung. Später wurde sie durch ein Erdbeben beschädigt und im 18. Jahrhundert von den Bewohnern verlassen. Wenn die ersten zerklüfteten Mauern auftauchen, bleibt einem beinahe der Atem weg – nicht allein durch den steilen Aufstieg, sondern angesichts der überwältigenden Schönheit. Archaische Harmonie erfüllt den Blick mit Staunen. Großartige Ausblicke auf das Hochplateau von Navelli, das Tal des Flusses Tirino und das Campo Imperatore rahmen die strategische Lage der Festung perfekt ein.

Noch bevor man den letzten Abschnitt des Weges bewältigt, erscheint die spektakuläre, achteckige Kirche Santa Maria della Pietà. Strahlend weiß erhebt sie sich aus den geschwungenen Formen des Berges. Es ist schwer, dem Drang zu widerstehen, unzählige Fotos von dieser gelungenen Symbiose aus Natur und Architektur zu machen – und doch sollte man diese Schönheit ganz ohne den Filter des Bildschirms in sich aufnehmen. Von diesen Orten sollte man eine Erinnerung behalten, die allein aus Empfindungen und Herzklopfen besteht. Der Eintritt in die Festung verlangt ein wenig Balance – ein felsiger Steg führt mitten hinein in die Ruine. Wer bereit ist, sich auf die Magie des Ortes einzulassen, kann Stein um Stein die Burg mit der Fantasie neu entstehen lassen. Ein Handpan-Spieler lässt seine Finger sanft über das Instrument gleiten. An eine der alten Mauern gelehnt, kreiert er eine Melodie, die zwischen Fels und Himmel, Vergangenheit und Gegenwart zu schweben scheint. Gedanken steigen empor in den Himmel des beginnenden Abends, füllen sich mit Erinnerungen, legen den Schmerz ab und kehren gereinigt zurück: ein Hauch von Magie.

Zwischen 350 und 1000 Metern Höhe blühen die zart lilafarbenen Krokusblüten des Safrans. Die Ernte folgt einem ganz eigenen Rhythmus – auch wenn es eine Saison gibt, weiß man nie genau, wann die Blüten erscheinen. Man überlässt sich den Kräften der Natur, begutachtet das Feld im Morgengrauen und erntet, was Mutter Natur beschlossen hat wachsen zu lassen. Wichtig ist dabei, dass die Blüten noch geschlossen sind, denn Sonnenstrahlen könnten die kostbaren Narben – den Safran – beschädigen. Nach der Ernte folgt eine sorgfältige Selektion. Zum Trocknen verwendet man ausschließlich bestimmte Holzarten. Die Kooperative Altopiano di Navelli produziert Safran von höchster Qualität. Ihr Präsident, Valentino Di Marzio, kennt als leidenschaftlicher Experte jedes Geheimnis dieses goldenen Pulvers. Der Safranrisotto in Navelli ist so gut, dass man kaum bei einem Teller bleibt – jeder Löffel weckt die Lust auf mehr und begleitet mit Geschmack und Wärme die nächsten Schritte durch die Region. Doch zuerst rundet ein Schluck „Zufran“ das Mahl ab – ein delikater Likör auf Basis des Safrans mit geschützter Herkunftsbezeichnung aus L’Aquila, kreiert von der Familie Ulacco. Der bernsteinfarbene Likör überzeugt durch seinen feinen Duft und die charakteristische Würze des echten L’Aquila-Safrans.

Die „Erzählenden Dörfer des Gran Sasso“ warten still darauf, entdeckt zu werden. Man braucht nur offen zu lauschen, den Geschichten der Bewohner zu folgen, den Linien der Häuser zu spüren und über Pflastersteine zu gehen, die selbst erzählen möchten. In Ofena beginnt die jüngste Geschichte mit einem außergewöhnlichen Extranatives Olivenöl, das Giuseppe Delfino mit großer Leidenschaft hergestellt hat – trotz seiner Übersiedlung nach Sardinien ist die Verbundenheit mit seiner Heimat spürbar. Das Öl besitzt eine sehr niedrige Säure und ein intensives Aroma, das Speisen perfekt begleitet und dabei noch äußerst gesund ist. Die Nähe von Wein und Öl ist kein Zufall: In Ofena gedeihen in der Kellerei Cataldi Madonna kraftvolle Cerasuolo-Weine, geprägt vom besonderen Mikroklima der Region. Die Reben profitieren von sonnigen Tagen und kühlen Nächten, die durch die Höhenlage und die Nähe zum Gran Sasso entstehen – ein Temperaturspiel, das dem Wein Frische, Tiefe und aromatische Spannung verleiht.

In dieser Gegend verweben sich Geschichten von Menschen, von der Liebe zur Heimat und von echtem Geschmack, der die Gaumen der Besucher erfreut. Wer die „Mandorle atterrate“ kostet – mandelbasierte Süßigkeiten, die den berühmten Konfetti von Sulmona vorausgehen – entdeckt ein Stück regionaler Esskultur: hergestellt aus nichts als Mandeln und Zucker, geschmacklich kraftvoll, im Aussehen schlicht – echte Energie zum Knabbern. Gerade die Energie, die man zur Entdekung des Oratoriums San Pellegrino gebrauchen kann. Die kleine Kirche befindet sich in Bominaco, einem Ortsteil des erzählenden Dorfes Caporciano. Dort bedecken mittelalterliche Fresken die Wände und das Tonnengewölbe in einem Farbenrausch, der schlicht magisch wirkt. Für Menschen jener Zeit, die nicht lesen konnten, erzählen die Bilder vom Leben Christi und seiner Passion. Szenen des Jüngsten Gerichts stehen neben Darstellungen des heiligen Pellegrino und anderer Heiliger. Besonders eindrucksvoll: das Kalendarium und die Figur des heiligen Onofrius, der nach Jahren in der Wüste nur von seinem eigenen Haar bedeckt ist.