Terra Italia

UnterkunftHistorische Herbergen in Naturpark des Gran Sasso

Text und Fotos: Paolo Gianfelici



 Im Hotel Diffuso von S. Stefano erlebt man eine Stimmung der Wesentlichkeit, die erfüllt ist von der Einfachheit und Wärme der Hirtenkultur der Abruzzen.

S. Stefano di Sessanio (TidPress) – Giovanni, ein perfekter Gastgeber, ist an der Rezeption des Albergo Diffuso beschäftigt. Er empfängt mich mit großer Freundlichkeit auf der Piazzetta des Dorfes und weist mir den Weg durch das Labyrinth der Gassen. Bald bin ich jedoch mit meinem Auto unter einem Portikus eingeklemmt – eingekeilt mit den Rädern und der Karosserie zwischen den Stufen und den Steinsäulen. Er eilt er mir zur Hilfe, und nach einem viertelstündigen Manöver, bei dem es um jeden Millimeter geht, gelange ich auf einen offenen Platz, an dem ein zierlicher Palast aus der Renaissance mit einer Loggia liegt. Giovanni nimmt einen gewaltigen Eisenschlüssel, der fast ein halbes Kilo wiegen dürfte, in die Hand, öffnet ein schweres, altes Holztor und zeigt mir mein Gemach. Es ist sehr niedrig, hat ein Tonnengewölbe, raue, geschwärzte Mauern und wird von einem seltsamen, fahlgelben Licht erhellt. An einer Wand befindet sich in der Höhe das einzige Fensterchen, fast nur ein Schlitz, der noch mit Eisenstäben geschützt ist. Ich habe den beunruhigenden Eindruck, in eine Gefängniszelle geraten zu sein.

Das Albergo Diffuso im Dorf

S.Stefano di Sessanio

Neugierig setze ich meine Nachforschungen fort. Dies war die ehemalige Kantine des Palastes. Kürzlich wurde alles vollständig renoviert und erhielt wieder das Aussehen, das dieses Ambiente im 19. Jahrhundert hatte. Das authentische Mobiliar ist das eines ärmlichen Schlafzimmers jener Epoche. Die Betttücher und die gepolsterten, bestickten Bettbezüge wurden in Handarbeit in den Werkstätten des Albergo Diffuso angefertigt.

Auf einer Kassette, die neben zwei Karaffen mit Quellwasser und Enzianlikör auf einem reich verzierten Spitzendeckchen steht, befindet sich das Schaltbrett für Beleuchtung und Heizung. Unter dem antiken Fußboden aus Tonfliesen und den Wänden, die kürzlich mit schwärzlichen (keineswegs echten, sondern künstlerisch gestalteten!) Stockflecken bemalten wurden, ist alles verkabelt. Die Renovierung erfolgte unter Beachtung der geltenden Sicherheitsnormen, um den Bedürfnissen der Gäste zu entsprechen.

Das Wappen der Medici

Das Atelier

Beispielsweise ist das Badezimmer eine kleine Grotte, die aber mit den modernsten Toilettenartikeln ausgestattet ist. Im Zentrum des Schlafzimmers befindet sich eine große weiße, offensichtlich auch mit Wassermassage ausgestattete Badewanne, die jedoch die Harmonie des ärmlichen Stils der abruzzesischen Hirten des 19. Jahrhunderts nicht verändert: ein ästhetisches Wunderwerk des Architekten.

Ich habe auch andere Zimmer, Suiten und die Gesellschaftsräume des Albergo Diffuso besichtigt, die sich in Gebäuden befinden, die Hunderte von Metern voneinander entfernt sind. Die Auswahl ist groß: von den ehemaligen Stallungen bis zur Beletage der Paläste. Es gibt tiefe Zimmerdecken, kleine Zimmer, enge Flure, Wendeltreppen, geschwärzte Wände, offene Kamine aus Stein und enge Fenster mit prächtigem Ausblick auf die Täler. Das gesamte Mobiliar ist authentisch, einige davon Mitleid erregend in ihrer Ärmlichkeit, wie z.B. die Kinderwiegen oder das Schaukelpferdchen. Nie habe ich allerdings ein unpassendes oder kitschiges Detail bemerkt. Im Hotel Diffuso von Santo Stefano di Sessanio lebt eine Stimmung der Wesentlichkeit auf, die erfüllt ist von der Einfachheit und der Wärme der Hirtenkultur der Abruzzen.

Santo Stefano di Sessanio, einst ein blühendes Zentrum des Wollhandels, zählt heute lediglich 70 Einwohner, vor mehr als einem Jahrhundert waren es noch mindestens 3000. Der Gran Sasso und Campo Imperatore, das große Hochplateau, wo einst Millionen von Schafen weideten, liegen oberhalb des Orts. Während der Renaissance reichte das Herrschaftsgebiet der Medici bis hierher. Ihr Wappen, das in der Höhe dominiert, und die schönen architektonischen Linien einiger Paläste bezeugen die Verbindungen dieses verlorenen Dorfes in den Bergen Süditaliens mit dem übrigen Italien und mit Europa. Ein anderes, für diese Gegend seltsames architektonisches Element sind die langen Säulengalerien innerhalb der Ortschaft. Die Waren wurden im Freien gestapelt und die Kaufleute widmeten sich dort ihren Besprechungen.

Nach der staatlichen Einigung Italiens geriet die Wollproduktion in eine Krise, die Geschäfte stockten und Santo Stefano entvölkerte sich durch Auswanderung. Für mehr als ein halbes Jahrhundert überlebte die kleine Gemeinde dank der Beharrlichkeit weniger Personen, die der alten Kultur treu blieben: einer Tradition, einer bestimmten Art und Weise, das Land zu bestellen, handwerkliche Erzeugnisse anzufertigen, zu kochen und zu leben. Es gab nur noch wenige Überlebende einer verschwundenen Welt – bis dann im Jahre 2000 zufällig ein Ritter aus dem Norden auf dem Motorrad zum Kamm dieser Berge kam und von einem einsamen Dorf angezogen wurde, das aus der Vogelperspektive einem Schiff mit dem Wachtturm als Hauptmast gleicht, das auf dem Stein- und Gebüschmeer des Massivs des Gran Sasso dahinsegelt.

Daniele Kihlgren, ein junger, reicher Italo-Schwede, investierte Geld und Energie und engagierte die begabtesten Restauratoren für die Verwirklichung eines großen Projekts: des Albergo Diffuso. Einige der schönsten und malerischsten Paläste mit Panoramablick wurde gekauft, renoviert und in Hotelzimmer, Restaurants, Kongressräume und kunsthandwerkliche Ateliers umgewandelt, wobei die antiken Wohneigenschaften erhalten blieben.

Das Albergo Diffuso ist seit wenigen Monaten eröffnet, es gibt allerdings bereits zahlreiche Gäste. Ich habe sie am Morgen beim Frühstück angetroffen, das alle gemeinsam an einem langen Eichentisch einnehmen. Mehrheitlich sind es junge Leute aus Europa und Nordamerika, die von einem kurzen Aufenthalt zu einem langen verführt werden, und das an einer Stätte, wo die Zeit im Jahre 1900 stehen geblieben ist.

(Übers.: Richard Brütting www.richard-online.net)

Info:

www.sextantio.it
reservation@sextantio.it
+39 0854 972324
Santo Stefano di Sessanio (Aquila)

12.01.2007

Ein Zimmer des Albergo Diffuso

Verkaufsstelle des Biobauerhofs P. Panone



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