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Perugia: Der Flug der Greif-Drohne

Ein Spaziergang durch die Hauptstadt Umbriens in Begleitung von Phantasie, Geschichte und zeitgenössischen Handwerkern, die mit „antiker“ Leidenschaft arbeiten

Perugia: Der Flug der Greif-Drohne

Text und Fotos: Elvira D’Ippoliti

 Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza

Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza

Perugia – In meiner Phantasie verlässt der Greif auf der steinernen Fassade des Palazzo dei Priori im Zentrum von Perugia seine Position, um wie eine archaische Drohne über meinem Kopf zu schweben. Seine Mission ist offensichtlich, mir die Stadt aus der Vogelschau zu zeigen. Grünlich schimmern die Flügel der Drohne in der herbstlichen Sonne. Auf dem Corso Vannucci, der Hauptstraße der Stadt, die von der Piazza IV Novembre direkt zu einer Aussichtsterrasse führt, sind viele Leute unterwegs: Ich bewege mich in die gleichen Richtung und gehe an schönen Kaffeehäusern vorbei. Die Schaufenster der Geschäfte öffnen sich in alten Steinmauern, und oft sind die Umrisse dieselbe, die der damalige Architekt geplant hatte. Perugia ist alt, zeitgenössisch und erstaunlich bei jedem Schritt. Papst Paul III. Farnese (1540) ließ ein ganzes Viertel der Stadt zerstören, um seine riesige Rocca Paolina bauen zu lassen und damit seine Macht zu zeigen. Von der Rocca sind nun nur die Fundamente vorhanden, während die Häuser der Baglioni, der wichtigsten Familie Perugias, abgerissen wurden.

Die Greif-Drohne will mich unter die Aussichtsterrasse führen: Eine Treppe führt direkt vor dem Eingang des alten Luxushotel Brufani in Richtung des Tales, aus dessen anscheinender Unendlichkeit die Spitzen zweier Kirchturme ragen. Die Straße windet sich steil hinunter. Die Flügel der Drohne bewegen sich lautlos im Wind. Mit einer Kopfbewegung zeigt sie mir mein Ziel. Das Haus ist von einer hohen Mauer der Hauptstraße versteckt. Ich warte vor der Tür, die bald von einer jungen Dame geöffnet wird. „Wollen sie meine Museumswerkstatt besichtigen?“ Etwas überrascht folge ich ihr in einen engen Eingang. Wie im antiken Labor eines Alchimisten reihen sich im nebenstehenden Raum Dutzende von kleinen, mit bunten Pulvern gefüllte Flaschen aneinander. „Dies sind die originalen alten Farben von Francesco Moretti, einem Genie der Glasfärbung“. Maddalena, so heißt die Dame, ist voller Energie und Leidenschaft; sie ist praktisch alleine geblieben bei der Realisierung von Glasfenstern, die streng handgemalt werden. „Es ist schwer“, erzählt sie, ohne ein Hauch Heiterkeit zu verlieren. „In meiner Familie hat man immer diese Arbeit gepflegt, man hat daran geglaubt, und ich kann einfach nicht aufgeben“.

 Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza

Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza

Das beste Symbol dieser familiären Hartnäckigkeit ist ein großes Glasfenster, auf dem das Porträt der Königin Margherita (zu deren Ehre in Neapel die gleichnamige Pizza erfunden wurde) von Maddalenas Vorfahren gemalt wurde. Ein fragiles Prachtstück, das, vom Tageslicht erhellt, im Familienmuseum thront. Margherita trägt ein hellblaues Kleid mit weißer Spitze. Auf einem Ölbild wäre es schon schwer gewesen, mit solcher Präzision jede Falte des Stoffes wiederzugeben, aber bei einer Glasmalerei ist dies praktisch unmöglich. „Die Farben müssen transparent bleiben“, fügt Maddalena zu, „denn das Licht soll durch das Glas scheinen. Schauen sie die Juwelen an: Die goldene Farbe ist ein Wunder“. Das Gesicht der Königin ist von adliger Blässe und so lebendig, dass man fast mit ihr zu reden anfangen möchte. Das kleine Museum bewahrt im authentischen, antiken Ambiente – „das unsere ist das einzige Haus, das von der Zerstörung durch Papst Paul III. nicht getroffen wurde“ – eine riesige Kollektion von Zeichnungen und Gipsfiguren auf, die als Modelle für die Glasmalerei genommen worden sind.

In der modernen Werkstatt atmet man weniger Atmosphäre, aber viel Engagement. „Um auf Glas malen zu können, muss man das Sujet mit kleinen Pinselstrichen färben. Nach dieser ersten Phase, wird das Glas gekocht und danach weiter bemalt. Dasselbe Verfahren muss vier oder fünf Mal geschehen. Oft geht das Stück Glas kaputt, und man muss wieder von vorne anfangen. Am Ende werden die verschiedene Teile mit Bleiruten verbunden“. Meine Zeit scheint auf einem der Glasfenster, die Maddalena gerade färbt, ebenfalls erstarrt zu sein. Vergangenheit und Gegenwart sind hier im Studio Moretti Caselli einfach austauschbar. Ich schaue aus einem Fenster und blicke auf die archaische Zukunftsdrohne. Der Greif schwebt ruhig in der Nähe eines Baumes, aber ich verstehe, dass es nun Zeit ist, mich von dieser wundersamen Glaswelt zu verabschieden.

Museo Atelier Giuditta Brozzetti

Museo Atelier Giuditta Brozzetti

Wenn man bergab spazieren geht, muss man sich irgendwann wieder nach oben bewegen. In Perugia hat man die gewölbten Fundamente der Rocca Paolina mit Rolltreppen ausgestattet. Die silbernen Wagen einer Mini-Metro gleiten automatisch den Hang hinunter und verbinden dieAltstadt mit den Neubauten. Der Greif begleitet mich hingegen wieder auf den Hauptplatz, aber wir halten uns hier nicht lange auf. Ein Paar steigt gerade die steile Treppe des Palazzo dei Priori hinauf, der Bräutigam muss dabei der Braut in ihrem weißen Spitzenkleid helfen. Diese Art Fitness-Hochzeit hatte die Braut wahrscheinlich nicht erwartet. Ich gehe weiter, und die Straße biegt wieder nach unten. Die Drohne ist immer ein paar Schritte vor mir, aber ich nehme mir die Zeit, die alten Palazzi zu bewundern. Ein römisches Aquädukt dient als schmale Brücke weiter nach unten. Ich erreiche die Drohne auf einem ruhigen Platz fast am Rande der Stadt. Eine steinerne Kirche bildet den weißen Kontrast zum blauen Himmel.

Museo Atelier Giuditta Brozzetti

Museo Atelier Giuditta Brozzetti

Ich werde wieder von einer jungen Dame willkommen geheißen. „Marta“ stellt sie sich vor und fängt gleich an, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen. „Wir leben hier nebenan. Die Kirche war verlassen, und mein Vater hat sie gekauft. Sie wurde zur Zeit des Heiligen Franziskus gebaut und – wer weiß – vielleicht ist er selber hier gewesen“. Eine Einleitung, die Emotionen hervorruft. Italiens Heiliger, derjenige der die ganze Erde und alle ihre Geschöpfe liebte, hat wahrscheinlich auf diese einfache und wunderschöne Architektur geschaut. Marta hat in dieser Kirche ihre persönliche Idee von Paradies auf Erden realisiert. Einer neben den anderen sind längs den steinernen Mauern antike Webstühle aufgereiht. Gebaut wurden sie in 18. oder 19. Jahrhundert und funktionieren noch heute. Wie bei der Werkstatt von Maddalena befinde ich mich in einem Museum, das gleichzeitig zur Ausübung eines raffinierten Handwerks dient. Marta nimmt am ältesten Webstuhl Platz und führt ihre Arbeit weiter. Sie schaut auf ein kleines Plakat, auf dem ein Bild von Pinturicchio steht: Das Jesuskind ist teilweise mit einem gestreiften Schal umhüllt, und aus dem Webstuhl kommt das identische Stück Stoff heraus. „Wie haben sie das Motiv nachgemacht?“ ist meine spontane Frage. Marta zuckt mit den Schultern. „Ich kann kein Schema lesen, dazu bin ich nie im Stande gewesen. Ich schaue einfach auf das Foto und arbeite weiter“.

In diesen Moment weiß ich nicht mehr, ob die Greif-Drohne ein phantastisches Wesen ist oder die Dame, die vor mir so ein delikates Muster aus dem Gedächtnis nachweben kann. In ihrer Familie haben seit Generationen die Frauen am Webstuhl gearbeitet. Das Motto dieser Werkstatt lautet: „Laboremus jucunde“. Die Freude an der Arbeit ist ansteckend und breitet sich durch die ganze Stadt aus. Perugia ist eine Werkstatt der Antike, in der noch heute fröhlich gewerkelt wird. Alle Probleme können von den Menschen in Schönheit umgewandelt werden: Dafür braucht man die richtige Geste, ein offenes Herz, Phantasie und Arbeitslust. Die Bewohner von Perugia kennen das Rezept seit langer Zeit.

 
 
Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza
Via Fatebenefratelli – Perugia
Tel. +39 0755720017 – +39 3407765594
www.studiomoretticaselli.it
 
Museo Atelier Giuditta Brozzetti
Via Tiberio Berardi, 5/6 – Perugia
Tel. +39 07540236, +39 3485102919
www.brozzetti.com
 
 
 
 Studio Moretti Caselli di Maddalena Forenza
Museo Atelier Giuditta Brozzetti
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