Terra Italia

Der Ruf aus der Tiefe: Im Untergrund von Neapel

Richard Brütting

Neapel (Terra Italia) - Wenn im Oktober in Rom oder Neapel das Termometer während der sog. "ottobrate" noch einmal auf annähernd 30°C klettert, ist

Abkühlung angesagt. An solchen Tagen übt das unterirdische Italien auf manchen Erdenbürger, so auf den Verfasser dieser Zeilen, eine besondere Faszination aus. Deshalb ist er – nach “Orvieto Underground” (s. TIN 2) – nun auch in Neapel ins Reich der Schatten hinabgestiegen. Unterhalb der
engen Straßenschluchten der wimmelnden Altstadt Neapels mit ihrem Durcheinander von Fußgängern, Verkäufern und Motorini – dazu kommt allerhand quer über die Straßen ausgespannte, im Wind flatternde Leib- und Bettwäsche – befindet sich eine etwa einen Quadrat-Kilometer große, weit
verzweigte Unterwelt. Ihr Eingang liegt unweit der Kirche San Lorenzo Maggiore, in der Giovanni Boccaccio 1334 die ‚Fiammetta’ (= die verheiratete Maria d’Aquino) kennen lernte. In den Hohlräumen und teilweise sehr engen, bis zu 20 m hohen Verbindungsgängen herrscht jahraus, jahrein eine gleichmäßige Temperatur von 13°C; die hohe Luftfeuchtigkeit erlaubt es, Pflanzen anzubauen, die nicht gegossen werden
müssen und nur eine künstliche Beleuchtung benötigen.
Die Kavernen umfassen etwa 25 Millionen Kubikmeter; sie werden erst seit einigen Jahren von der rührigen Associazione Culturale “Napoli Sotterranea” info@napolisotterranea.com) unter Leitung des Speleologen
Dr.Enzo Albertini intensiv erforscht und sind nur teilweise begehbar, da die in die Tiefe führenden Schächte oft mit Abfall zugeschüttet sind. Da kann es schon einmal vorkommen, dass die Höhlenforscher, wenn sie wieder
ans Tageslicht steigen wollen, auf eine bislang unbekannte Treppe stoßen, die in einen (Wein-)Keller oder sogar hinter einen Schrank in einer Erdgeschoss-Wohnung führt.
Die ersten unterirdischen Steinbrüche wurden vor etwa 5000 Jahren angelegt; der Tuffstein wurde dann von den Griechen für Stadtmauern und Tempel sowie zum Hausbau genutzt. Da sich die oberirdischen Aquädukte als recht unsicher und nur schwer zu verteidigen erwiesen hatten, erweiterten die Römer die zum Teil riesigen Kavernen, in denen man leicht ein Einfamilienhaus unterbringen kann, zu einem mehrstöckigen, undurchschaubaren Zisternen-System. Der Tuffstein der Hohlräume erhielt bis zu einer bestimmten Höhe einen Anstrich mit einem Isoliermaterial aus Öl und Steinmehl, um ihn wasserundurchlässig zu machen. Nach heftigen Regenfällen leiteten Überlaufkanäle das Wasser in weitere Kavernen. Als dieses Wassersystem Anfang des 17. Jahrhunderts nicht mehr ausreichte, erneuerte der Adelige Carmignano im Jahre 1629 die Zisternen, die Neapel nun über Jahrhunderte weiterhin mit Wasser versorgten.
Seit dem Mittelalter war Tuff das bevorzugte Baumaterial: Vom jeweiligen Bauplatz aus grub man einen Schacht in die Tiefe und holte das nötige Baumaterial aus dem ‘privaten’ Untergrund, was das ‘Häusle’ (pardon: den Palazzo) selbstverständlich stark verbilligte, da keine Transportkosten und Zollgebühren anfielen; zudem hatte man dann einen Zugang zu den Zisternen. Neapel wurde zu einer Vorzeige-Stadt mit Steinhäusern, die schon vor 300 Jahre sechs Etagen erreichten, und war im 18. Jahrhundert
mit 450.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Metropole in Europa.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die frühere Art der Nutzung des neapolitanischen Untergrunds aufgegeben, das Labyrinth erwies sich jedoch bis heute als sicheres Versteck für Camorra-Bosse und Verbrecher. Der Zweite Weltkrieg machte die Hohlräume wieder aktuell, als Bomben auf die Stadt fielen und man Luftschutzbunker benötigte. Makabres Zeugnis dieser Wirren sind Kinderspielzeug sowie eine englische und eine deutsche Uniform, die in einer kleinen Ausstellung von Fundstücken an rostigen Ständern langsam vermodern.

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