Terra Italia

Cagliari: Seelenreise durch die tausend Gesichter der italienischen Porträtmalerei

Ivana Tamai

Rendezvous für das Event des Sommers 2003, die Ausstellung „Von Tizian zu de Chirico – Die Suche nach Identität in Cagliari“. Der Gotha der italienischen Malerei in einer Inszenierung bis 21. September im Castello di San Michele.




Kastell San Michele

Cagliari (Terra Italia) – Das 1512 von Tizian auf Leinwand gebannte, gedankenvolle Antlitz von Pietro Aretino empfängt uns in einem Cagliari, das mit Theaterzetteln und Plakaten anlässlich der Ausstellung „Da Tiziano a de Chirico – La ricerca dell’identità“ übersät ist. Das Bildnis des berühmten toskanischen Intellektuellen ist das Logo einer Ausstellung, die sich durch die Darstellung des Gesichts als eine Reise in die Seele auf der Suche nach den tiefsten Falten des Ichs darbietet.

Die Ausstellung geht auf einen lange gehegten Wunsch ihres Kurators und Schöpfers Vittorio Sgarbi, eines berühmten Kunstkritikers sowie Abgeordneten des italienischen Parlaments zurück. Er hat über 130 Werke der größten Meister von der Renaissance bis heute ausgewählt. Diese so starke Konzentration großer Maler wurde auch dank des Engagements öffentlicher und privater Firmen und Institutionen erreicht, die ihre Werke ausgeliehen haben: das Museo di Palazzo (Venedig), die Provinz Mantua, die de Chirico-Stiftung und viele Privatsammlungen.

Das Ereignis ist im Castello di San Michele angesiedelt, das von einem der höchsten Hügel der Stadt aus vorteilhaft ein atemberaubendes Panorama auf den Golf von Cagliari bietet. Schon von ihrer Lage her erweist sich die Ausstellung als interessant: Das dem Erzengel Michael gewidmete romanische Kirchlein, die byzantinischen Türme und die katalanisch-aragonesische Stadtmauer tragen zur Faszination des Besuchers bei und stimmen ihn auf die Besichtigung ein.

Die Kalkfelsen von Bonaria sind kennzeichnend für die natürliche Landschaft und auch die Struktur des Kastells selbst – ein heller Stein „im Ton des gelben afrikanischen Kalks“, wie Elio Vittorini in den 1930-er Jahren schrieb, der durch die Sonne Sardiniens kleidsamer geworden ist. Ab und an wird er von einer farbigen Macchia unterbrochen: von Oleander in tausend Rosatönen, von Rosmarin- und Lavendelbüschen. Es ist die üppige Vegetation der Insel, die dem Nordwestwind seinen intensiven Duft verleiht.

Noch geblendet von so viel Licht treten wir in den mystischen Halbschatten des Kastells. Der Saal im Erdgeschoss beherbergt die Werke von der Renaissance bis zum Barock. Eingehüllt in eine magische mittelalterliche Atmosphäre scheinen die Bildnisse uns mit einem teils strengen, teils gequälten Ausdruck zu betrachten, der manchmal glücklich, öfter aber melancholisch ist. Rätselhaft und nur wenig ironisch ist der Blick des „Giovane in nero“ (Jüngling in Schwarz) von Lorenzo Lotti, träumerisch der des „Doppelporträts“ von Giorgione und melancholisch der von Eleonore von Toledo, der Großherzogin der Toskana, die von Bronzino in ihrem asketischen Adel abgebildet wurde.

Selten, wenngleich eindrucksvoll ist die Präsenz weiblicher Künstlerinnen. Sie zeigen uns, wie die sozialen Bedingungen der Vergangenheit die aktive Teilhabe der Frauen an der Welt der Kunst begrenzte. Von Artemisia Gentileschi stammt eine Cleopatra von rosa Fleischlichkeit und opulenter, sinnlicher Schönheit, während Di Rosalba Carriera das „Porträt einer Frau“ in der duftigen Grazie des 18. Jahrhunderts hinterlassen hat.

Ein freundschaftlicher Halbschatten scheint die Intimität zwischen den porträtierten Personen und den Besuchern zu fördern, so, als wollte er das Geheimnis wechselseitiger Identität aufdecken. Somit verläuft die Reise in die „Seelenmalerei“ von Parmigianino zu Tintoretto und dann vom 19. Jahrhundert zum Jahrhundert Freuds. Und da gräbt die Suche nach der Identität in den Sorgen und Träumen, in der Lebensangst und der Entfremdung, Themen, die zusammenfließen im komplexen Verhältnis zwischen Kunst und Psychiatrie, das die Kunstkritik der letzten Zeit durchforscht hat. Die Werke des 19. und 20. Jahrhunderts sind im oberen Stock des Kastells ausgestellt, wo ein direkteres und kaltes Licht die Bilder glättet und sie jener geheimnisvollen Aura beraubt, die das Publikum verführen kann.

Wenn die ersten porträtierten Persönlichkeiten Intellektuelle, Adelige und Condottieri waren, so gehören die Gesichter jetzt dem einfachen Volke an. Dies gilt für das vom Leid apathisch gewordene Antlitz der Santina Negri im Gemälde „Erinnerung an einen Schmerz“ von Pelizza da Volpedo, für das vom Wahnsinn gezeichnete Selbstbildnis von Ligabue und schließlich für die ‚metaphysische Malerei’ von de Chirico bis zu Boccioni, Morandi, Sironi und Guttuso.

Die Schlussabteilung der Ausstellung trägt den Titel „Die Suche nach Identität – andere Einsamkeiten“. Sie ist in der Städtischen Gemäldegalerie von Cagliari angesiedelt, die allein schon aufgrund ihrer Dauerausstellung mit Werken von Balla, Boccioni, De Pisis, Morandi, Depero, Donghi, Casorati einen aufmerksamen Besuch wert ist. In der Tat werden hier inmitten der großen Meister des 20. Jahrhunderts die neun noch lebenden Künstler ausgestellt, die den Schlusspunkt bilden. Nicht zu übersehen sind der Sarde Lino Frongia mit seiner meisterhaften Neuinterpretation von Guercino, dann Andra Marinelli mit der durchdringenden Intensität seines Bilds „L’uomo degli sguardi“ (Der Mensch der Blicke) und der junge Südtiroler Aaron Demetz, der Frauenbildnisse mit einer abgeklärten Gesetztheit aus dem Holz des Grödnertals geschnitzt hat.

So viele Gesichter, welche für so viele Interpreten die Seele spiegeln, so fern in der Zeit und so unterschiedlich im Stil und der künstlerischen Reife! Alle sind uns jedoch nahe in ihrer Suche nach menschlicher Identität – einer vielleicht wieder gefundenen Identität im gemeinsamen Schicksal existentieller Einsamkeit und menschlicher Zerbrechlichkeit.

Informationen
Ausstellungsorte: Castello di San Michele – V. Sirai, Colle di San Michele – Cagliari.
Galleria Comunale d’Arte – Largo Giuseppe Dessì, Giardini Pubblici – Cagliari.
Termine: 21. Juni bis 21. September 2003.
(vom 18. Oktober 2003 bis 18. Januar 2004 in Palermo, Albergo delle Povere).
Öffnungszeiten : Dienstag bis Donnerstag: 10.00-13.00 / 17.00-22.00; Freitag bis Sonntag: 10.00-13.00 / 17.00-24.00.
Eintrittspreise: 8,00 Euro / 6,00 (mit Ermäßigung). Freier Eintritt für Kinder bis 5 Jahre, Behinderte und ihre Begleiter; Führungen: zusätzlich 2,00 Euro.
KATALOG: SKIRA 28,00 Euro.
Weitere Informationen : Castello di San Michele; Tel. / Fax : +39-070-500 656.
E-Mail: castellosanmichele@tiscali.it.


Tizian – Porträt von Pietro Aretino

Artemisia Gentileschi: Cleopatra
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