Text und Fotos: Lisa Mittelberger
Wie kann ein so kaltes Element wie der Marmor so viele Emotionen entfachen? Um diese Frage zu beantworten, sollte man Carrara in der Toskana besuchen. Die Einführung in die Welt des kunstvollen Marmors erfolgt in den Werkstätten etwas außerhalb der Stadt, wo bereits im Jahr 1864 dieses prächtige Material bearbeitet wurde, das auf der ganzen Welt bekannt ist. Die „Cooperativa Scultori di Carrara“ ist von vier jungen Künstlern gegründet worden, die das „Gefühl für Marmor“ weiterführen, das von Künstlern wie Michelangelo berühmt gemacht wurde. Ein Mann trägt Kopfhörer, um den Lärm der Schleifmaschine zu dämpfen, mit der er arbeitet. Seine Gesten sind von einer Nebelwolke aus Marmorstäuben umgeben, die durch das Licht fast magisch wirkt. Tatsächlich verbirgt sich hinter der Arbeit des Bildhauers eine Herausforderung: einem kalten Material Leben einzuhauchen, das seit römischen Zeiten in den Steinbrüchen der Apuanischen Alpen abgebaut wird. Eine Handwerkerin verwendet in der Werkstatt die alte Technik des Zirkels, um die richtigen Proportionen vom Modell auf die Statue zu übertragen. In einer anderen Halle ist die Moskauer Bildhauerin Aidan Salakhova am Werk. Von all diesen Menschen beeindruckt die Anstrengung, die Härte des Marmors zu bewältigen, aber vor allem die Zufriedenheit, die aus ihren Blicken spricht, denn letztendlich ist es immer der Mensch, der gewinnt und etwas Einzigartiges und Aufregendes schafft.
Das Stadtzentrum von Carrara ist eine Visite wert. Beim Spaziergang durch die ruhigen Straßen fällt der Blick zwangsläufig auf die vielen Marmordetails, die die Häuser schmücken. In den Geschäften kann man handgefertigte Mamor- und Designobjekte kaufen. Der komplett aus Marmor erbaute Dom vermittelt den Eindruck, in eine Skulptur eingetreten zu sein, deren Schönheit bereits an der Fassade aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammend, auf der sich Bänder aus weißem und schwarzem Marmor abheben, betont wird . Carrara, „UNESCO Creative City“, beherbergt drei Museen, die dem Marmor gewidmet sind: das „Museo Civico del Marmo“, das diesen Stein vom römischen Zeitalter bis heute erzählt, das „CARMI Museo Carrara e Michelangelo“, das die Geschichte der großen modernen und zeitgenössischen Skulptur illustriert, und das „mudaC Museo delle Arti di Carrara“ für zeitgenössische Kunst. Der Besuch der „Accademia di Belle Arti“ ist ein Muss. Hier spürt man die Begeisterung junger Menschen, die aus der ganzen Welt kommen, um aus der Vergangenheit, dank der Gipsfigurensammlung mit ihren 300 Originalstücken von Canova bis Thorwaldsen zu lernen, den Marmor lebendig zu machen.
Während des Stadtbesuchs bleiben die Apuanische Alpen im Hintergrund, aber wenn man sich den Bergen nähert, taucht man in den Charme der Steinbrüche ein. Die Berge erscheinen tatsächlich durch den jahrtausendealten Abbau des kostbaren Materials verletzt, aber hier atmet man eine einzigartige Atmosphäre. Es ist, als ob jeder Künstler, der hier vorbeigekommen ist, von den Etruskern über die Römer bis hin zu Michelangelo und Canova, ein Stück dieses unstillbaren Durstes hinterlassen hätte, der die Menschen dazu bewegt, Schönheit zu schaffen. In den aktuellen Steinbrüchen herrscht reger LKW-Verkehr, und während man den berühmten in speziellen Marmor-Behälter gereiften Lardo in der „Larderia di Colonnata“ genießt, ist der rhythmische Schlag der Maschinen, die den Berg treffen, um ihn seines Schatzes zu berauben, die ideale Hintergrundmusik, um ein einzigartiges Gebiet zu genießen. Diese unerschöpfliche Marmorquelle treibt alle dazu an, zumindest ein Stück Carrara-Marmor für sich zu haben, um die polierte Perfektion zu streicheln und Schönheit zu erleben.