Terra Italia

Thiene im Renaissance-Frühling

Richard Brütting

Thiene (Terra Italia) – Während Goethe (entgegen seinem ursprünglichen

Plan, s.u.) Noto und Syracus nicht zu Gesicht bekam, hat er sehr wohl das

nördlich von Vicenza gelegene Städtchen Thiene besucht. Er schrieb am 22.

September 1786: “Heute früh war ich in T[h]iene, das nordwärts gegen die

Gebirge liegt, wo ein neu Gebäude nach einem alten Risse aufgeführt wird

[…]. So ehrt man hier alles aus der guten Zeit und hat Sinn genug, nach

einem geerbten Plan ein frisches Gebäude aufzuführen. Das Schloß liegt

ganz vortrefflich in einer großen Plaine, die Kalkalpen ohne

Zwischengebirg hinter sich.”

Thiene versteht sich als eine Stadt “im menschlichen Maßstab”

(www.comune.thiene.vi.it; E-Mail: info@comune.thiene.vi.it). Als

Teilnehmer der 5. Tourismus-Börse von Ferrara hatte ich Gelegenheit, eine

Exkursion in diesen vortrefflichen Ort zu machen, der sich seinem

geschichtlichen Erbe mit großer Hingabe widmet. Insbesondere der

historische Markt, der auf eine Konzession des Dogen von Venedig aus dem

Jahre 1492 zurückgeht, wird am ersten Oktober-Wochenende unter großer

Anteilnahme der Bevölkerung in historischen Kostümen begangen.

Berühmt sind die Villen im Umkreis von Thiene, so die neoklassische Villa

Capra Bassani (1764) und die mit herrlichen Fresken geschmückte Villa Godi

Malinverni, die 1542 von Andrea Palladio errichtet wurde, als der junge

Architekt entscheidende Schritte zu einer neuen Raumaufteilung und zur

Einbeziehung der Natur tat, sich aber noch nicht an römischen Bauwerken

orientierte. Die Villa beherbergt auch ein bedeutendes Fossilien-Museum,

u.a. mit der größten versteinerten Palme Europas. Luchino Visconti drehte

1954 in diesem Ambiente seinen Film “Senso”.

Ein schlank in den Himmel ragender Stadtturm und die Kuppeln des Doms und

anderer Kirchen blicken auf eine geschäftige Stadt, die bis heute vom sog.

“Schloss” der Grafen von Thiene geprägt ist. Eigentlich geht es um die

prächtige Villa Porto-Colleoni-Thiene, die in der Mitte des 15.

Jahrhunderts erbaut und später mehrfach erweitert wurde. Der Kaminsaal

(Camerone del Camino) ist mit Fresken von Zelotti und Fasolo zur römischen

Geschichte geschmückt. Von eigenartiger Eleganz sind die prunkvoll

ausgestatteten Stallungen, in denen die Pferde einst wie Kunstwerke zur

Schau gestellt wurden. Mit Putten gekrönte Steinsäulen trugen an kunstvoll

geschmiedeten Halterungen die Geschirre der vornehmen Tiere.

Selbstverständlich fehlt es in Thiene nicht an kulturellen

Veranstaltungen, für die ein dekoratives Jugendstil-Theater zur Verfügung

steht. Ebensowenig mangelt es an Speis und Trank: In der Umgebung werden

die Weine von Breganze gekeltert, und auf der nahen Hochebene stellt man

den außergewöhnlich schmackhaften Asiago-Käse in verschiedenen Reifestufen

her. Ich konnte diese Köstlichkeiten in einem mächtigen unterirdischen

Kuppelbau probieren, der in früheren Zeiten als Eiskeller genutzt wurde.

Ein eindrucksvolles geschichtliches Zeugnis für die handwerkliche

Geschicklichkeit der Bewohner des Hinterlands von Vicenza ist ein mit

Wasserkraft betriebenes Hammerwerk (“Il Maglio di Breganze”) aus dem 16.

Jahrhundert. Es ist noch voll funktionsfähig und wurde mitsamt seinen

einfallsreichen Einrichtungen, Werkzeugen und Produkten zu einem ‚aktiven‘

ethnographischen Museum für vorindustrielle Technologien ausgebaut. Angelo

Giusto Tamiello, der letzte berufsmäßige Schmied, hat sich fürsorglich und

erfolgreich um den Erhalt der seit dem Ende 18. Jahrhunderts im Besitz

seiner Familie befindlichen Anlage bemüht. Sein Sohn Bruno führte uns

bereitwillig die Verrichtungen an Esse, Amboss, Eisenhammer und

Schleifstein vor.

Wo lässt es sich gepflegt in Thiene speisen? Zu empfehlen ist das “Menù

Tipico” im Restaurant “Corte di Belo”, wo man u.a. Polenta mit Stockfisch

versuchen kann. Dieses Gericht mundet insbesondere dann, wenn es von

Signor Alfredo Pelle, dem sachkundigen Sekretär der “Ehrwürdigen

Bruderschaft des Stockfischs nach Vicentiner Art”, humorvoll kommentiert

wird. – Aber warum sollte man nicht wie weiland Herr Goethe auch einmal

beim Grafen von Thiene einkehren? Er stellte in diesen Tagen erstmals die

Loggia seines Schlosses für ein Dîner im Stile der Renaissance zur

Verfügung und war persönlich während des Festmahls anwesend.

Schon am Schlosstor wurden die Ankömmlinge von Spalier stehenden

‚Adeligen‘ in historischen Kostümen empfangen, zuvörderst aber von einem

Albino-Windhund, der die Gäste vor lauter Noblesse nur desinteressierter

Blicke würdigte. Sofort nach den Mühen der Empfangszeremonie streckte sich

das edle Geschöpf in voller Länge zu einem wohlverdienten Schläfchen aus.

Während im Hintergrund die italienischen und französischen Madrigale und

Kanzonen eines Renaissance-Chors erklangen, wurden zu Speisen nach alten

Rezepten – Salbei-Omeletts, im Teigmantel fritierter Lauch, herzhaft

gewürzte Geflügelleber-Spieße, mit Knoblauch gebratenes Ziegen- und

geschmortes Kaninchenfleisch, in Rotwein gedünstete Birnen, Kirschtorte

mit Blütenblättern roter Rosen – die herrlich duftenden Weine der Gegend

gereicht: zunächst ein Vespaiolo Spumante und ein kräftiger Gruaio, dann

ein Marzemino (diese Sorte stammt aus dem Raum Thiene und ist später ins

Trentino ‚ausgewandert‘) und schließlich der feine Dessertwein Torcolato.

– Es ist vorgesehen, diese Premiere einer “Cena Rinascimentale”

gelegentlich zu wiederholen, in der Hoffnung, dass sich dann

zahlungskräftige Gäste verwöhnen lassen.

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