Terra Italia

Rebenlese unter dem Sternenhimmel des Mittelmeers

Paolo Gianfelici

Die Familie Rallo aus Marsala und die Renaissance der sizilianischen Weine. Besuch einer Stadt voller Widersprüche und barocker Faszination. Die nächtliche Weinlese im Belice-Tal.




Das Gut Donnafugata von Contessa Entellina

Marsala (Terra Italia) – Die Geschichte dieser Stadt West-Siziliens ist seit mehr als 200 Jahren mit dem Wein verbunden. Der englische Kaufmann John Woodhouse kam 1773 per Zufall hierher und hatte als erster den Einfall, in Europa den Verkauf des lokalen „fetten und heißen” Weißweins zu lancieren, der aus Trauben gewonnen wird, die unter der glutheißen Sonne des Mittelmeers gereift sind. Der Business hatte Erfolg, und dem Marsala-Wein gelang es, die Konkurrenz der bereits berühmten portugiesischen Madera-Weine zu schlagen. Nach diesem Höhepunkt in der Geschichte der sizilianischen Weine erfolgte ein jahrzehntelanger Niedergang, in den letzten Jahren jedoch eine Wiedergeburt.

Die Renaissance des sizilianischen Weinbaus hat einen genauen Namen: die Familie Rallo, die Hunderte von Hektar Rebflächen auf der Insel Pantelleria, in Marsala und in Contessa Entellina besitzt, zudem Kellereien, wo unter der Bezeichnung Donnafugata Weiß- und Rotweine von bester und ausgezeichneter Qualität (linea classica bzw. top line) erzeugt werden. Antonio Rallo und seine Schwester José, die beide Natur- und Wirtschaftswissenschaften an den besten italienischen Universitäten studiert haben, repräsentieren das neue, junge Sizilien, das mit Taten und nicht nur mit Worten die schlimmsten Defekte der Insel besiegt hat.

Das alte (d.h. träge, resignierte, aber auch herrische und mafiose) Sizilien ist heute gezwungen, sich mit dem neuen zu messen. Um dies zu verstehen, braucht man lediglich einen Spaziergang durch die Straßen dieser bezaubernden Stadt zu machen. Die (zu wenigen) italienischen und ausländischen Touristen, die durch die ordentliche, saubere und für Kraftfahrzeuge rigoros gesperrte Fußgängerzone Via XI Maggio schlendern, betrachten die Schaufenster der eleganten Geschäfte.

Etwas weiter jedoch, jenseits der Porta Nuova, sind die Gärten der Villa Comunale Cavallotti wegen der Vernachlässigung durch die Stadtgärtner und aufgrund von Vandalismus wahrlich abstoßend. Der Dom aus dem 18. Jahrhundert hat eine sehr prächtige Fassade, aber ich bin zehn Minuten herumgeirrt, ohne eine offene Eingangstür zu finden. Die Uferpromenade säumt eine Allee sehr hoher Palmen, und in der Ferne sieht man die Ägadischen Inseln aus einem tiefblauen Meer auftauchen – insgesamt also ein zauberhafter und idealer Ort, um den Urlaub zu verbringen. Aber unerklärlicherweise – vielleicht ist dies der einzige Fall in ganz Italien – gibt es kein Hotel, auch kein Restaurant oder eine Kneipe oder eine Diskothek, sondern nur Privathäuser mit einem gewissen Luxus. Möglicherweise könnten die Touristen die hier wohnenden Personen stören?

Aber kehren wir zum Hauptgrund zurück, der mich nach Marsala geführt hat: zum edlen Traubensaft. Ich probierte in der alten Kellerei der Rallos vom top line des Donnafugata: Die Rotweine „Mille e una Notte” und „Tancredi“ enthalten Frucht im Quadrat, Waldfrüchte und Kirschen; der Weißwein „La fuga Chardonnay” duftet nach Äpfeln der Sorte Golden Delicious und nach tropischen Früchten, „Vigna di Gabri“ nach kandierten Zitrusfrüchten. Die Preise gehen in den Kellereien von 20 bis 40 Euro. In jedem beliebigen italienischen Großmarkt kann man jedoch für 5 Euro den Rotwein „Sedara linea classica“ von Donnafugata kaufen. Ich habe eine derartige Flasche des (ausgezeichneten) Jahrgangs 2000 entkorkt: Er war trocken, etwas tanninhaltig, mit Duft nach roten Früchten. Er war das Doppelte seines Preises wert.

Eine Flasche Wein hat eine lange Geschichte auf ihren Schultern. Sie beginnt bei der Auswahl des Terrains und der Rebstöcke und endet bei den Systemen der Traubenlese und den Techniken der Weinbereitung. Die Üppigkeit der sizilianischen Natur und ihre sengende Hitze tragen einerseits zur Produktion guter und gesunder Trauben bei (die Behandlung der Rebstöcke mit Schwefel- und Kupferpräparaten erfolgt nur zwei- bis dreimal im Jahr, gegenüber zwölfmal im Trentino). Andererseits unterstützt die hohe Lufttemperatur nicht die Konservierung des Aromas der Trauben. Aus diesem Grund hat man die nächtliche Weinlese „erfunden“. Man erntet in der sizilianischen Nacht bei Temperaturen von 20-22 Grad anstatt bei 35 Grad am Tage. Der so aus den Trauben gewonnene Most enthält einen größeren Anteil jener flüchtigen Substanzen, welche die Weine der kälteren Länder berühmt gemacht haben.

Ich bin auf dem Gut Donnafugata von Contessa Entellina gewesen, einer Ortschaft im Tal des Belice-Flusses im Innern Siziliens zwischen den Provinzen Palermo, Trapani und Agrigento. Hier erheben sich die Ruinen jenes Palastes, in dem sich die Geschehnisse des Romans „Il Gattopardo” von Tomasi di Lampedusa zum großen Teil ereignen. Auf dem abschüssigen Gelände gibt es allerorts Weinberge, Olivenhaine und Getreidefelder. Die Reihen der Chardonnay-Rebe steigen Hunderte von Metern die Hügel hinan. Wir warten darauf, dass sich der Himmel mit Sternen bedeckt und die nächtliche Weinlese beginnt; unterdessen probieren wir die Speisen arabischen Ursprungs der alten sizilianischen Küche: Couscous mit Fisch, Fischsuppe mit Kürbis-Pilaw, Tajine mit Fleisch und Gemüse, einen sehr süßen Frucht-Couscous mit Dessertwein und Honig, Melonen-Eis. Ich koste zu den Nachspeisen einen Ben Ryé, einen Likörwein aus Pantelleria, der süß und doch ausgewogen, wohlriechend und nicht fad schmeckt.

Genau zur Mitternacht erstrahlen die auf die Rebreihen gerichteten Scheinwerfer und beginnt die Lese der kleinen Trauben. Ich habe mich ebenfalls daran gemacht, sie zu suchen, aber da sie zwischen den Blättern verborgen waren, habe ich sie fast nicht gefunden. Je weniger Frucht vorhanden ist, desto besser wird der Wein sein.

Die Familie Rallo öffnet ihre Marsala-Keller mit geführten Besichtigungen für Liebhaber des Weintourismus und der alten regionalen Küche Siziliens, für Geschmackskunde-Kurse und für prächtige Musikabende (weiteren Informationen: www.donnafugata.it; Tel. +39-0923-724200 ).


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